Notizen

Ein Tipp, den jeder Mensch mit ADHS so oder ähnlich schon zig mal gehört hat und sich direkt dachte: Meinst du, da bin ich noch nicht selbst drauf gekommen?!

Ich habe Kisten voller Kalender und Notizbücher, die für 14 Tage geliebt und dann vergessen oder nie verwendet wurden. Wobei »vergessen« das falsche Wort ist. Es war manchmal quasi unmöglich, sie noch mal anzufassen. Mit Apps ist es ähnlich. Ich habe so, so viele durchgespielt. Doch sobald der Neuigkeits-Effekt verpufft ist, wird es uninteressant für einen Kopf wie meinen. Und dann geht gar nichts mehr.

Weil ich das gerade wieder mit einer wirklich schönen App namens »Structured« erlebt habe, dachte ich, schreib was darüber: Über Produktivitätstipps und -hilfen und ADHS bei mir(!!!)! Wobei die App an sich keine Rolle spielt. Ich könnte auch von »Todoist«, »Things«, »Bullet Journals« oder den »Apple Erinnerungen« schreiben. Wenn man anfängt, über ADHS nachzudenken, wird es schwer, wieder aufzuhören, weil alles mit allem zusammenhängt. Der Text ist deshalb ein kleines bisschen umfangreich geworden, gleichzeitig bleibt er natürlich unvollständig. Es geht um meine persönlichen Erfahrungen, die nicht zu verallgemeinern sind.

ADHS ist eine neurologische Stoffwechselstörung. Man nimmt an, dass neben anderen Faktoren eine geringere Verfügbarkeit von Dopamin vorliegt, weil es zu schnell resorbiert wird. Hier setzen die meisten Medikamente an: sie fangen das Dopamin auf, so dass es weiter zur Verfügung steht. Das ADHS-Hirn ist generell auf der Suche nach Stimulation um dieses Ungleichgewicht auszubalancieren. Und etwas Neues, von dem man auch noch meinen könnte, es werde einem helfen, das eigene Leben nun endlich mal in den Griff zu bekommen, ist doch eine gute Stimulans. ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bring tatsächlich kein Defizit an Aufmerksamkeit mit. Es ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit bewusst dahin zu lenken, wo man sie haben will, die defizitär ist. Die Aufmerksamkeit geht dahin, wo die Stimulation herkommt. Bei allem, was neu ist, ist also von erhöhter Stimulation auszugehen, die Neurotransmitter fließen, wenn es einen denn packt, interessiert oder auch ängstigt. Und dieser Neuigkeitsfaktor verliert sich natürlich nach einiger Zeit, vor allem wenn das neue System auch keine Wunder zu bewirken scheint.

Menschen mit ADHS haben oft ein Problem, Zeit richtig einzuschätzen. Wir sehen sie nicht, was als »Zeitblindheit« bezeichnet wird. Blindheit ist wahrscheinlich ein zu hartes Wort, Kurzsichtigkeit trifft es besser. Das betrifft das Zurückblicken und vor allem aber das Vorausschauen. Termine werden vergessen, man kommt zu spät, man macht etwas auf den letzten Drücker etc. Eines der Probleme von denen ich übrigens im Vorfeld meiner Diagnose dachte, ich sei aber wirklich sowas von gar nicht betroffen und hätte wahrscheinlich auch deshalb gar kein ADHS. Ich bin immer und überall viel zu früh. (Spoiler: Auch das ist unpünktlich.) Und außerdem hatte ich doch schon immer das »perfekte« App-Setting und zum Glück tatsächlich gute Gewohnheiten, was zumindest das Befüllen von Kalendern und Todo-Listen angeht. Im Bereich Desorganisation habe ich in den Fragebögen nicht ganz so stark gepunktet. Aber ja, mein Zeithorizont liegt knapp vor mir und er ist nicht von wichtigen Aufgaben oder großen Ereignissen und Zielen geprägt, auf die ich kontinuierlich hinarbeiten würde. Sie kommen mir einfach sehr theoretisch vor. Wo sehe ich mich in fünf Jahren? Hier? Mein Kopf möchte sich vor allem auf kurzfristig erreichbare Ziele konzentrieren.

Das alles war mir vor meiner Diagnose nicht bewusst. Was ich merkte, war eine große Skepsis meinem eigenen Gehirn gegenüber: Habe ich das aufgeschrieben? Wo denn? War es das, was ich machen sollte? Da gehört sicher noch mehr dazu! Kann ich das nicht jetzt schon machen? Das ist ja noch ewig hin. Das ist viel zu viel, wie soll ich das hinkriegen? Ich darf das nicht verpassen ... Man kreiert Strategien und maskiert diese. Bei mir war es vor allem die Angst zu versagen und »aufzufliegen«, die mir »half« und die ich offenbar gut maskierte. »Du hast ADHS? Du warst doch immer so organisiert.« Ich war immer froh, wenn es ein Datum gab, denn mir selbst welche zu setzen, das fiel und fällt mir schwer. Und dann waren da trotzdem immer wieder unerklärliche Löcher in die richtig wichtige Sachen gefallen waren. Ein Kreislauf, der die Unsicherheit mit jeder Runde erhöht. Das ist anstrengend über die Jahre und es erklärt natürlich die zig Planer, Geräte, Apps und Methoden, die über die Jahre verwendet wurden und auch den Hunger, die perfekte App, das perfekte Setting zu schaffen. Ich wollte schon als kleines Kind immer eine Uhr tragen und hatte immer mehrere Uhren, die jede Art von Katastrophe eher überlebt hätten als ich. An der Uni hatte ich mehrere der frisch auf den Markt geworfenen Organizer (»Hallo, Revo«). Ich suchte intuitiv externe Hilfen, die unkaputtbar und verlässlicher wären als mein Hirn.

Und jetzt würde man ja meinen: Supi, wenn alles aufgeschrieben ist, dann machst du das jetzt einfach und gut! So funktioniert das aber auch wieder nicht, denn jetzt kommen die exekutiven Funktionen ins Spiel, die mit ADHS gestört sind.

Exekutive Funktionen ermöglichen es uns, Vorhaben umzusetzen und uns zu regulieren. Sie machen es möglich, eine Handlungsabfolge zu erstellen und die einzelnen Schritte motiviert und gezielt anzugehen während wir dabei die Reize ausblenden, die uns daran hindern könnten. Das klappt mit ADHS nicht. Mit ADHS weiß man ganz genau, was und wie man etwas tun sollte, es hapert an der Umsetzung, auf die man nur begrenzt Einfluss hat. Denn, wie anfangs geschrieben: Der Stoffwechsel muss stimmen. Es muss genug Dopamin vorhanden sein. Bei ADHS ist das Gehirn ohne zusätzliche Reize aber eben unterstimuliert. Langweilige Aufgaben, mögen sie auch noch so »wichtig« sein, stimulieren nicht. Zusätzlich dazu erscheint einem jeder der vielen Gedanken gleich wichtig. Es fehlen die Filter, die schon mal vorsortieren, was relevant ist und was nicht. Deshalb hat man das Gefühl, der Kopf platz gleich, was oft darin endet, dass einfach gar nichts mehr geht. Was wiederum den schlecht regulierten Emotionen nicht gut tut …

Hier setzen - für mich - die Medikamente für ADHS sehr erfolgreich an. Sie wirken wie ein Objektiv, das von Blende 16 (ich sehe und höre alles) auf Blende 3.5 (ich sehe das Motiv, der Rest wird angenehm ausgeblendet) geht und Aufmerksamkeit dort ermöglicht, wo sie sein soll.
Das war ein laaaanger Diskurs, ich weiß …

Zurück ins Jetzt. Ich habe es also wieder einmal ein paar Tage versucht, mit einer neuen Methode und App, in der Hoffnung auf Dopamin und natürlich auch Produktivität. Die App »Structured« wird im Netz häufig im Zusammenhang mit ADHS genannt, weil sie hilft, Zeit zu strukturieren, indem sie sichtbar gemacht wird. Ich strukturiere meinen Tag und sehe, wo sich Zeitfenster auftuen, die ich normalerweise nicht sehe. Auch mich hat es beeindruckt als ich klar vor mir sah, wie viel Zeit mir noch bleiben würde nachdem das und das schon erledigt wäre. Ich weiß das natürlich alles vom Kopf her, aber die Umsetzung in die Realität ist etwas anderes. Die App ist schön, vor allem unter iOS. Die Mac-App finde ich persönlich zumindest an meinem Intel-Mac etwas langsam und umständlich zu bedienen. Das hätte ich aber in Kauf genommen, wenn mein Hirn mitgespielt hätte. Wollte es aber nicht, denn nach ein paar Tagen war ich einfach nur noch genervt und richtig gehend gestresst von den ganzen Aufgabenstarts und -enden, die ich formuliert hatte und von denen ich annahm, sie würden mir helfen, den Wechsel von einer Aufgabe zur anderen leichter zu gestalten. Natürlich passten sie nicht. Entweder war ich früher fertig oder im Flow oder es kam was dazwischen. Feste Zeiten werden also wieder gestrichen. 🤷‍♀️

Ich bin jetzt seit 20 Jahren selbständig tätig und schaffe das, was ich mir vornehme auf meine Art. Das ist selten die oft zitierte ADHS-Art, bei der kurz vor der Deadline die Maschinen dampfen. Dazu habe ich viel zu viel Angst angesammelt. Ich bin eher der Typ »jetzt oder nie« und muss damit arbeiten, wie mein Hirn gestimmt ist und worauf es seinen Fokus legt. Deshalb habe ich mir eine Arbeit gesucht, die mich generell interessiert und immer wieder motiviert. Etwas, bei dem ich neugierig bleiben kann. Interessiert mich eine Aufgabe nicht oder nicht mehr(!) ist es z.T. richtig schmerzhaft, sie zu bearbeiten. Ganz schlimm ist das z.B. wenn es Änderungen an Projekten geben soll, die mein Hirn schon für abgeschlossen erklärt hat. Dann würde ich am liebsten ganz aussteigen. Aber das geht ja nicht und so müssen Strategien her, die funktionieren. Häufig »trickse« ich, indem ich erst einmal etwas angehe, was sich sicher realisieren lässt oder mir eben genug Dopamin bringt, überhaupt zu starten und nehme dann die schwierige Aufgabe im Fahrwasser der anderen mit. Eine andere Variante ist, mir eine stimulierende Sache als Belohnung oder Ziel zu setzen und vorher das Unangenehme anzugehen. Das geht offenbar nicht, wenn ich mir vorschreibe, die berühmten, in kleine Schritte geteilten Aufgaben »dann zu starten und dann zu beenden«. Das stoppt den Fluß und bringt Druck, Unruhe und Stress und schlimmstenfalls komplette Paralyse, weil der Unmut zur kompletten Unterstimulation führt. Da helfen auch die Medikamente nicht.

Jedenfalls verschwand mein Frust sehr schnell wieder als mir klar wurde, wovon ich mich hier gerade nerven lasse und dass dieser Weg der Produktivität sein Ziel verfehlt hat - und das ohne schlechtes Gewissen.

Das soll wohl auch das Fazit sein, was aus diesem Textwust zu ziehen ist: Man muss immer wieder herausfinden, was passt und was nicht. Es ist ok, wenn etwas, das für andere funktioniert, einem selbst nichts bringt. Es gibt Dinge, die sich willentlich nicht beeinflussen lassen. Und für die Perspektive der Tipps-Geber: Die meisten Dinge sind komplexer als man zunächst meint. Menschen mit ADHS haben so viele Gedanken im Kopf, dass sie auf die ganz naheliegenden ganz sicher schon selbst gekommen sind.

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