ADHS: Vom ersten Gedanken zur Diagnose
Ach, deshalb
Frühjahr 2020. Corona macht sich breit. Erster Lockdown. Die Blindentechnische Grundausbildung meiner Tochter endet. Eine anschließende Maßnahme ist für sie nicht in Sicht, der Beginn einer Ausbildung auch erstmal nicht. Was machen wir? Wir machen Homeschooling. Ist mein Studium doch noch mal zu was gut: Deutsch, Mathe, Office ... was man so für die anstehende Ausbildung brauchen könnte.
Jetzt aber merken wir: Aufmerksamkeit und Motivation sind die zwei bestimmenden Faktoren für das Gelingen der Aufgabenbearbeitung. Auch bei mir: Interessieren mich die Inhalte nicht wirklich, kann ich mich kaum dazu bringen, sie als Aufgaben aufzuarbeiten. Schon gar nicht über Wochen. Das ist mir bisher nicht so bewusst gewesen, kann ich dank Selbständigkeit ja eher Dinge machen, die mir liegen.
Hintergrund: Der Nachwuchs bekam vor vielen Jahren die Tags Asperger Syndrom und ADHS. Wir hatten uns voll auf Asperger gestürzt, ADHS nicht wirklich beachtet.
Also lese ich mich ein: in das Thema ADHS. Das ist ja eh das, was ich am liebsten mache: Dinge erforschen ... ich bin voll drin. Was ich dann lese, ist ein ziemlicher Tornado und öffnet mir die Augen.
So ziemlich jeder Artikel, der mir unter die Augen kommt, handelt von mir. Noch nie habe ich mich so perfekt erkannt gefühlt, wie in diesen Texten. Es lässt mich nicht los.
Ich mache alle Selbsttests, lese Studien zum Thema ADHS bei Frauen im Erwachsenenalter und finde hier die mögliche Antwort darauf, warum sich vieles in meinem Leben so gestaltete, wie es hat - und ich oft das Gefühl habe, irgendwie nicht “richtig” erwachsen geworden zu sein.
TikTok, Instagram, Twitter ... wenn man sich umschaut, sind da so viele Erwachsene, die erst recht spät in ihrem Leben davon erfahren haben, dass ihre Quirks, Ängste und Depressionen anderen Ursprungs sind. Und - welches Glück für mich - sie reden und schreiben darüber. (Und deshalb mache ich das jetzt hier auch.)
Das geht soweit, dass sich sogar meine allzeit umfassend erforschten und geliebten, aber immer wieder verdammt wechselhaften Interessen erklären lassen würden. Die zig angefangenen und dann vergessenen Kalender und Notizbücher, die bis auf jede Kleinigkeit konfigurierten Produktivitätssysteme, die doch alle nicht von Bestand bzw. hilfreich waren (- aber unheimlich viel Spaß machen). Die mir fehlende Beständigkeit, die ich so hasse ( ... wo könnte ich sein, wenn ich all die Interessen über Jahre hätte vertiefen können). Die unzähligen Ängste und Schamgefühle, die sich über die Jahre verfestigt haben: Unpünktlich sein, Wichtiges vergessen, Enttäuschen, andere verletzten, aus Unaufmerksamkeit alles Mögliche (vielleicht) anstellen, Leute vor den Kopf stoßen, die unfassbar viele Energie und der ebenso alternierende immense Energieverlust ... Die verpassten Chancen - vor allem beruflich ... Die tausend Projekte, die angefangen, ausgebaut und nicht unterhalten wurden. Und die verdammte innere Unruhe. Aber natürlich nehme ich mir das nicht ab. Meine innere Stimme sagt mir, es sind Ausreden dafür, dass ich nie etwas wirklich durchhalte, dass ich zu impulsiv, zu wechselhaft, zu laut, zu leise, zu schnell, zu langsam, zu alles bin. Warum ich das bin und wie es sich wirklich gut verstecken lässt, das frage ich mich mein Leben lang.
Denn ich merke mit 50, dass sich alles nicht mehr so gut maskieren lässt. All diese Eigenheiten, für die ich viele Wege gefunden habe, mit ihnen oder um sie herum zu arbeiten, sind ehrlich sehr anstrengend. Was mir früher leicht fiel, wird immer anstrengender. Einiges schreibe ich deshalb ab, weil es mir nicht mehr möglich ist, so zu tun, als ob.
Also versuche ich ab Sommer 2021, eine kompetente Meinung dazu und gegebenenfalls eine offizielle Diagnose einzuholen. Offenbar ist ADHS “in”, vor allem bei Erwachsenen, so wird mir das am Telefon vermittelt. Außerdem beschäftigen sich scheinbar vor allem Privatpraxen mit dem Thema, Stichwort Selbstzahler. Wenn ich überhaupt über einen AB hinauskomme, dann tun sich entweder gar keine Termine oder monatelanges Warten auf. Ich sage einen Termin zu und versuche es weiter. Schließlich kann ich den immer noch absagen ... Dann bekomme ich Antwort auf eine der vielen Mails, die ich geschrieben habe, mehrere Termine zwei Monate später und einen Sack voller Fragebögen. Aufregend! Und gleichzeitig immer der Gedanke, dass das alles ein riesengroßes und ziemlich seltsames Hirngespinst ist.
Ist es nicht. Januar 2022. Nach mehreren Terminen, Gesprächen und Tests ist klar: Ich habe ADHS. Und ich lerne das mit 51. Was das tatsächlich bedeutet, kann ich noch nicht wirklich fassen. Aber es ist eine Erklärung, die mir hilft, die Sicht auf das, was war und das was kommt, neu zu filtern.
Ich möchte mit diesem Text jeden ermutigen, sich eben nicht entmutigen zu lassen, wenn solche Fragen im Raum stehen. Und ich möchte dafür plädieren, eine offizielle Diagnose anzustreben, denn egal, wie viel man liest und versteht, man nimmt es anders an, wenn es bestätigt ist.
Es ist ein Schritt, der weitere Schritte und das eigene Umdenken tatsächlich erst möglich macht. Mal ganz davon abgesehen, dass es so wunderbar ist, mit jemandem reden zu können, der versteht, worum es sich wirklich dreht und warum oft gar nichts und dann wieder alles geht. Ich habe wirklich großes Glück mit meinem Arzt, denn er hat sich viel Zeit genommen, mir alles ganz genau zu erklären.
Wer ADHS bei sich vermutet, wird sich ganz natürlich in das Thema versenken. Im Anschluß ein paar wenige gute Ressourcen zum Einstieg auch für Interessierte und Angehörige. Vor allem die Podcasts sind sehr zu empfehlen.